Joachim Ringelnatz lebte zehn Jahre in München, bevor er 1930 nach Berlin zog. Im Grunde seines Herzes war er aber ein Weltenbummler, den der Ruf der Ferne schon früh auf einen abenteuerlichen und auch leidvollen Weg schickte.
Der abgedruckte Text karikiert die Eigenheiten der bayrischen Hauptstadt im gewohnt amüsanten Satire-Ton des Joachim Ringelnatz. Erschienen ist das Gedicht in der Sammlung „Reisebriefe eines Artisten″ (1927), die vor dem Hintergrund seiner Reisen als Vortragskünstler entstand. Seine Auftritte im Matrosenanzug führten den Schriftsteller in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts auf die Bühnen im gesamten deutschsprachigen Raum.
Ulrike Unger
MÜNCHEN
Nach einer Herrenstammtischnacht
(Versehentlich an die Steuerbehörde gesandt)
Die Amseln flöten am Stachus.
Am Sendlingertorplatz nach Schwabinger Nacht
Schimpfen Caprivi und Bacchus
Auf eines Wasserspringbrunnens Pracht.
Jemand, der seinen Doktor gemacht
Hat, fühlt sich als ein Riese
Und brüllt als wie am Spieße. –
Auf der Oktoberwiese:
Die Bavaria: – lacht.
Vor Mittag wünschen zweie
Sich „Angenehme Ruh!″
Der dritte Chargierte Immerzu
Feiert noch Bannerweihe.
Im Donisl blühn die Weißwürste.
Im Schlachthof brüllt anderthalb Kalb.
Und reaktionäre Dürste
Erheben sich allenthalb ...
Die Frauentürme verwechseln
Sich selber. Von unten her
Kurzwichsig mit Jodeln und Sächseln
Hebt sich der Fremdenverkehr.
Da lassen sich aus Venedig
Die Tauben und Witwen und Ehefraun
Am Theatiner rundum beschaun
Und trippeln, als seien sie ledig.
Und weil ich mich eben so freue,
Mal ohne Frau, auf verbotenem Weg,
Drum preis' ich die alte und neue
Pinako – Pinako – – kothek.
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Joachim Ringelnatz: Reisebriefe eines Artisten. Berlin: Rowohlt 1928. S. 129–130.